Gemeinde Stuttgart · Archiv: Texte und Bilder - Einführung in das Markus-Evangelium
Rettet die Katharinenkirche

Café Strich-Punkt

Bistumsseiten alt-katholisch.de

Forum Mensch-und-Kirche


Stundengebet
im Alltag

{Einführung in das Markus-Evangelium}
von Joachim Pfützner (08.11.05)

Vier Evangelien enthält das Neue Testament, benannt nach den Evangelisten Matthäus, Markus, Lukas und Johannes. Zwischen den drei ersten Evangelien besteht ein innerer Zusammenhang, den die Bibelwissenschaftler Zwei-Quellen-Theorie nennen. Das bedeutet: Die längeren Evangelien des Matthäus und Lukas haben das kürzere Markus-Evangelium als Hauptquelle zur Verfügung gehabt. Nachweisbar ist das an der streckenweise wörtlichen Übernahme. Über die aus dem Markus-Evangelium stammenden Quelltexte hinaus verfügen Matthäus und Lukas aber noch über eine zweite Quelle; das wird deutlich an einer ganzen Reihe von weiteren übereinstimmenden Texten. Dabei handelt es sich vor allem um Jesus-Worte; man nennt sie deshalb auch die Logienquelle Q. Schließlich verarbeitet noch einmal jeder Evangelist, d.h. Matthäus und Lukas, für sich Quelltexte, die die Bibelwissenschaftler „Sondergut“ nennen.

Matthäus, Markus und Lukas lassen sich also auch nebeneinander im Vergleich lesen; der griechische Fachausdruck dazu heißt „synoptisch“ lesen. Die drei ersten Evangelien werden deshalb auch gern „Synoptiker“ genannt. Für die historische Forschung ist das eine günstige Voraussetzung. Durch Vergleiche der Evangelien lässt sich nämlich folgendes feststellen:

• Matthäus und Lukas übernehmen nicht alle Texte des Markus-Evangeliums wortwörtlich. Das bedeutet: Jeder Evangelist übernimmt seine Quelltexte so, wie sie in seine persönlichen Vorstellungen hineinpassen. Jeder Evangelist hat ja eine ganz bestimmte Situation vor Augen. Zu denken ist in diesem Zusammenhang an Gemeindesituationen. Matthäus schreibt zum Beispiel für eine judenchristliche Gemeinde, Lukas dagegen für eine hellenistische Gemeinde. Matthäus muss also auf die jüdischen Wurzeln seiner Gemeindemitglieder Rücksicht nehmen, Lukas dagegen muss jüdisches Denken in griechische Mentalität übersetzen.

• Die Anordnung der übernommenen Quelltexte ist manchmal bei den Evangelisten Matthäus und Lukas unterschiedlich zur Anordnung im Markus-Evangelium. Auch daraus lassen sich Rückschlüsse auf theologische Leitgedanken der einzelnen Evangelisten ziehen.

• Das jeweils verwendete Sondergut sagt natürlich auch etwas über die theologischen Anliegen und die Gemeindesituation des jeweiligen Evangelisten aus.

Durch Vergleiche der synoptischen Evangelien können wir also ziemlich genau die Gemeindesituation und das theologische Anliegen der Evangelisten Matthäus und Lukas bestimmen. Beim Markus-Evangelium ist das anders. Da gibt es keine Vergleichsmöglichkeiten. Es lässt sich zwar leicht denken, dass Markus seine Quelltexte ebenfalls überarbeitet und in eine bestimmte Anordnung gebracht hat. Bibelwissenschaftler haben deshalb auch versucht, die Traditionsschichten einzelner Markus-Texte herauszufiltern, aber es hat sich gezeigt, dass dies ein sehr spekulatives Geschäft ist und historisch nicht viel bringt. In jüngerer Zeit hat man deshalb nach anderen Methoden gesucht, dem Evangelisten Markus auf die Spur zu kommen. Maßgeblich wurde dabei die literarische Methode, d.h. man untersuchte das Markus-Evangelium mit literaturwissenschaftlichen Mitteln. Und da machte man ganz wesentliche Entdeckungen, die uns zwar über den Evangelisten Markus selbst nicht viel Neues sagen, wohl aber über seinen Umgang mit den ihm zur Verfügung stehenden Quelltexten und damit über seine theologischen Anliegen.

Die allerwichtigste Entdeckung, die man im Markus-Evangelium überhaupt gemacht hat, wird von den Wissenschaftlern „Sandwich-Methode“ genannt. Das bedeutet: Markus gruppiert um ein bestimmtes Kernthema weitere Themen, die das Kernthema erschließen. Wie das zu verstehen ist, wird am besten durch eine Grobgliederung des Markus-Evangeliums deutlich.

Der innere Rahmen: Mk 8,22-26 und Mk 10,46-52

Das erste Sandwich, das wir betrachten wollen, setzt sich, von außen gesehen, aus zwei Blindenheilungen zusammen: Mk 8,22-26 und Mk 10,46-52. Der Evangelist sagt mit ihnen etwas aus über seine Leser. Er sieht sie als „Blinde“ an, weil sie Jesus noch nicht kennen. Lassen sie sich aber auf das Evangelium ein, werden ihnen allmählich die Augen geöffnet, und zwar von Jesus selbst. Er selbst lüftet den Schleier über das Geheimnis seiner Person. Und was die Leser da erfahren, ist nicht immer sofort zu verstehen. Die erste Blindenheilung vollzieht sich deshalb auch in Etappen. Das Geheimnis Jesu wird erst allmählich sicht- und verstehbar. Und Jesus muss sich ganz schön mühen, damit der Blinde zum Sehenden wird. Doch Markus geht es nicht nur um ein bloßes Öffnen der Augen. Er hat ein größeres Ziel vor Augen, und dieses Ziel zeigt sich in der zweiten Blindenheilung, der Heilung des Bartimäus: Da heißt es am Ende: „Im gleichen Augenblick konnte er wieder sehen, und er folgte Jesus auf seinem Weg“ (Mk 10,52). Genau das ist Markus’ Rat an seine Leser: Sehend, mit offenen, wachen Augen, sollen sie Jesus auf seinem Weg folgen – nicht nur in einem Durchgang des Evangeliums, sondern immer wieder. Markus denkt dabei auch nicht nur an einen intellektuellen Prozess: Mit dem Nachgehen des Weges Jesu hat er ein wirkliches, ein praktisches Nachgehen vor Augen: So wachsen wir in das Geheimnis Jesu hinein.

Die Jüngerbelehrung Mk 8,27 - 10,45 auf dem Weg von Galiläa nach Jerusalem als innerer Kern des Markus-Evangeliums

Was aber ist das Geheimnis der Person Jesu? Markus sagt es uns im zentralen Teil seines Evangeliums, den wir „Jüngerbelehrung“ nennen: Mk 8,27 - 10,45. Diese Jüngerbelehrung vollzieht sich auf einem Weg. Auch das ist ein zentrales Bild des Markus-Evangeliums: Wir lernen Jesus als den Christus kennen, indem wir wie seine Jünger mit ihm gehen, indem wir uns auf ihn, auf seine Worte und Taten einlassen. Je mehr wir das tun, desto mehr kommen wir vorwärts, desto mehr werden wir ein Bartimäus, der einen Blick bekommen hat für das Geheimnis Jesu und einen Blick für das, was dieses Geheimnis im alltäglichen Lebensvollzug, in der christlichen Exis-tenz bedeutet. Markus „serviert“ uns in der Jüngerbelehrung weitere drei Sandwiches, die wir uns etwas näher anschauen wollen. Die Mittelteile finden wir in Mk 8,31-33; Mk 9,30-32 und Mk 10,32-34. Alle drei Texte beinhalten eine Ankündigung Jesu: „Der Menschensohn müsse vieles erleiden und von den Ältesten, den Hohenpriestern und den Schriftgelehrten verworfen werden; er werde getötet, aber nach drei Tagen werde er auferstehen“ (Mk 8,31). Aufschlussreich ist nun, wie Markus diese Leidensankündigungen „verpackt“.

Der ersten Ankündigung geht das Messiasbekenntnis des Petrus voraus (Mk 8,27-30). Ausschlaggebend ist die Frage, für wen die Menschen Jesus halten (Mk 8,27). Es ist auch die Frage des zunächst noch blinden Jüngers, der sehen möchte: Wer ist das denn überhaupt, dieser Jesus? Wem sollen wir da folgen? Antwort: Er ist der Messias. Das löst die nächste Frage aus: Was bedeutet das: Messias? Wie müssen wir uns den Messias vorstellen? Was charakterisiert ihn? Antwort: siehe die erste Leidensankündigung. Und nun die Reaktion (eigentlich beginnt schon hier der hintere „Verpackungsteil“ des Sandwichs): Das kann doch nicht wahr sein! Was haben wir von einem Messias zu erwarten, der leiden soll und getötet wird? (vgl. Mk 10,32). Jesus wird hier sehr ernst und sehr konsequent: Dieses Denken mag menschlichen Vorstellungen entsprechen, aber nicht dem Willen Gottes! (vgl. Mk 10,33). Wir erfahren: Der Messias Jesus hat etwas mit Gott zu tun, und Gottes Messias ist anders als andere Messiasse. Gottes Messias glänzt nicht durch politische Macht und politischen Befreiungswillen. Ihm drohen Leiden und Hinrichtung. Aber nach drei Tagen wird er auferstehen. Und das bedeutet: Wer das Geheimnis des Messias Jesus verstehen will, der muss sich erst einmal von seinen eigenen Messias-Vorstellungen und auch von seinen eigenen Gottesvorstellungen verabschieden – so versteht Markus das Sich-selbst-Verleugnen (Mk 8,34). Und der wird nicht umhin können, sich auf einen Gott einzulassen, dem das Ohnmächtige, Schwache und Verachtete nicht fremd ist. Und der die Toten lebendig macht (vgl. Mk 8,31: „…aber nach drei Tagen werde er auferstehen. Und er redete ganz offen darüber.“) – so versteht Markus das Kreuz-auf-sich-Nehmen (Mk 8,34).

Der Außenteil der zweiten Leidensankündigung gestaltet sich etwas komplizierter. Da reicht es nicht nur, die Heilung eines besessenen Jungen anzuschauen (Mk 9,14-29), bei der es übrigens weniger um Epilepsie geht als viel mehr um einen Vater-Sohn-Konflikt. Und der passt thematisch zu dem, was noch einmal ein Stück weiter vorn im Evangelium über Vater und Sohn in der Verklärungsgeschichte Jesu gesagt wird (Mk 9,2-10). Da heißt es von Jesus: „Das ist mein geliebter Sohn; auf ihn sollt ihr hören!“ (Mk 9,7). Gesagt wird das von einem Jesus, der in strahlend weißen Gewändern erscheint – ein Bild dafür, dass Gottes Herrlichkeit in Jesus aufleuchtet. Mit „verwandelten Augen“ (Mk 9,2) sehen Petrus, Jakobus und Johannes diesen Jesus, mit anderen Augen also als gewöhnlich, mit den Augen des Glaubens, inneren Augen: So zu sehen lernen wir erst – Jesus selbst öffnet uns wie Bartimäus dazu die Augen. Dann sehen wir auch die Heilung des besessenen Jungen anders: Wir sehen, dass der Junge nicht nur einen leiblichen irdischen Vater hat, sondern auch Gottes geliebter Sohn ist, und dass Gottes Herrlichkeit auch in ihm aufleuchtet.

Damit dringen wir nun zum inneren Kern unseres Sandwichs vor. „Der Menschensohn wird den Menschen ausgeliefert…“ sagt Jesus in dieser zweiten Ankündigung seines Leidens (Mk 9,31). Und das bedeutet eben auch Tod, „doch drei Tage nach seinem Tod wird er auferstehen“ (Mk 9,31). Die Jünger kommen immer noch nicht mit dem, was Jesus da über seinen Weg sagt, zurecht (Mk 9,32). Wie passt das zusammen: der geliebte Sohn Gottes und dann dieses Schicksal? So können auch wir fragen: Wie passt das zusammen, wenn jemand von uns leidet und stirbt, ist er oder sie doch ein geliebter Sohn bzw. eine geliebte Tochter Gottes? Trauen wir uns, unsere Zweifel zu äußern? Die Jünger tun es nicht (Mk 9,32). Dafür aber streiten sie untereinander um Rangfolgen: Wer ist der Größte von uns? (Mk 9,34). Mit dieser Frage „verpackt“ Markus die zweite Leidensankündigung. Nicht verstehen und auch nicht fragen: Das bedeutet, verhaftet zu bleiben in der eigenen Welt, von der sich der Jesus Nachfolgende doch lösen sollte, um ihn überhaupt verstehen zu können. In dieser Welt gibt es Rangfolgen, gibt es Größte und Erste. Nicht aber bei Jesus: „Wer der Erste sein will, soll der Letzte von allen und der Diener aller sein“ (Mk 9,35). Jesus geht – siehe Leidensankündigung – den Weg der Letzten (Mk 9,31). Später erfahren wir, dass er darin einen Dienst sieht – es ist übrigens das letzte Wort der Jüngerbelehrung: „Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele“ (Mk 10,45).

Schauen wir uns die Verpackung der dritten Leidensankündigung an: Da geht es um das Thema Reichtum und Nachfolge (Mk 10,17-31). Inhaltlich ist dieses Thema nicht anders gestaltet als das der Kreuzesnachfolge (vgl. Mk 8,34 – 9,1): Voraussetzung dafür ist ein Sich-Lösen von Abhängigkeiten: „Geh, verkaufe, was du hast, gib das Geld den Armen, und du wirst einen bleibenden Schatz im Himmel haben; dann komm und folge mir nach!“ (Mk 10,21). Die Jünger reagieren auf diese Worte wie blind: Sie sind bestürzt (Mk 10,24), sie erschrecken (Mk 10,26), sie haben Angst. „Wer kann dann noch gerettet werden?“ (Mk 10,26). Für sie ist ein Sich-Lösen, wie Jesus es beschreibt, offensichtlich unvorstellbar. Dabei kann Gott dieses Unvorstellbare erreichen (Mk 10,27). Ihm ist möglich, was Menschen nicht möglich ist. An Jesus werden wir es sehen, wenn wir die Augen offen halten – vor allem die Augen unseres Herzens, die Augen des Glaubens, die Jesus selbst uns öffnen wird.

Mit ihnen werden wir sehen, was Jesus jetzt ankündigt: „Wir gehen jetzt nach Jerusalem hinauf; dort wird der Menschensohn den Hohenpriester und den Schriftgelehrten ausgeliefert; sie werden ihn zum Tod verurteilen und den Heiden übergeben; sie werden ihn verspotten, anspucken, geißeln und töten. Aber nach drei Tagen wird er auferstehen“ (Mk 10,33f.). Auch diesmal lassen die Jünger die Worte Jesu nicht an sich heran (vgl. Mk 10,35-45, hier vor allem die Überleitung: „Da traten Jakobus und Johannes… zu ihm…“).

Die andere „Verpackungsseite“ des Evangelisten stellt ein weiteres Mal Menschen vor, die um ihre Größe und ihre Vorteile besorgt sind – als komme es darauf im Leben an: „Lass in deinem Reich einen von uns rechts und den anderen links neben dir sitzen“ (Mk 10,37). Wir spüren, wie schwer der Prozess des Augenöffnens (vgl. Mk 8,23-25) vonstatten geht und wie deutlich Markus das in der ersten Blindenheilung zum Ausdruck bringt. Der Glaube kommt nicht mit einem Mal. Er kommt erst durch das richtige Sehen. Und deshalb öffnet Jesus den um ihren Wert und ihren Vorteil Bedachten die Augen für das Geheimnis seines Weges: „Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinke, oder die Taufe auf euch nehmen, mit der ich getauft werde?“ (Mk 10,38). Wir müssen uns entscheiden. Wir müssen lernen, dass es unter den Jesus-Nachfolgenden keinen Raum gibt für solche, die als Herrscher gelten, ihre Völker unterdrücken und ihre Macht über die Menschen missbrauchen (Mk 10,42). „Wer bei euch groß sein will, der soll euer Diener sein, und wer bei euch der Erste sein will, soll der Sklave aller sein“ (Mk 10,43). Markus deutet mit diesen Worten Kreuzes-nachfolge. Da geht es nicht immer um das Letzte, um die Bereitschaft zu Leiden und Tod, sondern vor allem um die Bereitschaft, offen zu werden für andere und ihre Suche nach Heil. Jesus zeigt uns durch seinen Weg, wie wir in diese Haltung hineinfinden.

Damit haben wir den Kern des Markus-Evangeliums, die Jüngerbelehrung mit ihrer Umrahmung, den beiden Blindenheilungen, kennen gelernt – das erste Sandwich. Und dieses erste Sandwich wird nun zum Kern des zweiten: „Verpackt“ wird er mit dem Wirken Jesu in Galiläa (Mk 1,14 – 8,21) und dem, was Jesus in Jerusalem erfährt (Mk 11,1 – 15,41).

Die Galiläa- und Jerusalem-Geschichten Mk 1,14 – 8,21 und Mk 11,1 – 15,41 als Rahmen der Jüngerbelehrung

„Kehrt um und glaubt an das Evangelium!“ (Mk 1,15). Mit dieser Aufforderung beginnt die Reihe von Texten, die das Wirken Jesu in Galiläa beschreiben. Wie diese Umkehr zu verstehen ist, folgt dann in der Berufungsgeschichte der ersten Jünger: Mitten in ihrem Alltag, mitten in ihrer Arbeit, unabhängig von ihren familiären Bindungen, lassen die von Jesus Gerufenen alles stehen und liegen, um ihm nachzugehen. „Die Zeit ist erfüllt“ (Mk 1,15); sie ist reif für das Neue, das da beginnt: „Sofort“ (Mk 1,18.20) gehen die Jünger mit – so charakterisiert Markus die „erfüllte Zeit“. Und wieder ist es das Weg-Motiv, das uns da begegnet: Ein Weg liegt vor den Gerufenen, auf dem sie Jesus erfahren als heilenden (Mk 1,29-34.40-45; 2,1-12; 3,1-6.10; 5,21-43; 6,5.53-56; 7,31-37; 8,22-26), Sünden vergebenden (Mk 1,10f.; 2,17), gemeinschaftsstiftenden (Mk 2,15; 3,20.32; 6,31.37ff.; 7,1; 8,1ff.), gegen Dämonen kämpfenden (Mk 1,23-26.34.39; 3,11; 5,1-20; 7,24-30) Mann, dessen Ruf sich zwar „rasch im ganzen Gebiet von Galiläa“ verbreitet (Mk 1,28), der aber auch den Widerstand der Pharisäer und Anhänger des Herodes (Mk 3,6) sowie den der Hohenpriester und Schriftgelehrten (Mk 11,18) hervorruft.

Kein Evangelium enthält so viele Heilungsgeschichten (außer den oben Genannten noch Mk 10,46-52) wie das des Markus. Und kein Evangelium enthält so viele Geschichten von Dämonenbefreiungen wie das des Markus (außer den oben Genannten noch Mk 9,14-29). Das fällt auf. Man nimmt an, dass Markus mit seinen Heilungsgeschichten eine Antwort gibt auf ein Problem seiner Zeit: „Es gab in den hellenistischen Gemeinden so genannte ‚göttliche Menschen’, ‚Wundertäter, die durch die griechischen, kleinasiatischen, syrischen Städte zogen und die Begeisterung der Menge durch allerlei, teils durch Magiertricks, teils durch den Einfluss ihrer Persön-lichkeit und ihres Rufs bewirkte Wundertaten weckten; in ihnen sah man eine Art von Inkarnation göttlicher Kräfte und erzählte erstaunliche Dinge über sie’ (Schweizer, 221)“, lesen wir in Anselm Grüns Buch über das Markus-Evangelium (S. 9). „So ähnlich mögen manche Christen in den griechischen Gemeinden auch Jesus verstanden haben. Dagegen setzt Markus das irdische Leben Jesu, das durch die Niederungen des Alltags und schließlich durch die Niederlage der Passion schreitet“ (ebd.).

Auf der anderen Seite zeigen die Heilungsgeschichten aber auch, was kennzeichnend für die „erfüllte Zeit“ des „Reiches Gottes“ (Mk 1,14d.) ist: dass Menschen frei werden vom Ballast ihrer Krankheiten und Besessenheiten, und dass Jesus sich besonders der so Belasteten annimmt. Markus zeigt uns einen Jesus, „der für den Men-schen kämpft, der sich in die Auseinandersetzung mit den Dämonen wagt, der das Vertrauen gegen die Angst setzt und die Hoffnung gegen die Verzweiflung“ (A. Grün, S. 11).

Wir können hier die Galiläa-Geschichten nicht intensiver anschauen; sie werden uns im Laufe des neuen Kirchenjahres vorgestellt. Wichtig ist zu sehen, dass Markus mit den Galiläa-Geschichten die Jerusalem-Geschichten verbindet, dass er den verkündenden, heilenden, Jünger um sich sammelnden, anerkannten, erfolgreichen Jesus mit dem abgelehnten, den Schriftgelehrten und Hohenpriestern ausgelieferten, leidenden und schließlich getöteten Jesus im Zusammenhang sieht, dass beide Seiten dieses Jesus den offenbaren, der sich in der Jüngerbelehrung, dem Kern des Evangeliums, selbst offenbart. Anselm Grün schreibt: „Wir verstehen das Heil, das durch Jesus gekommen ist, nur dann, wenn wir sein ganzes Leben und Wirken in den Blick nehmen“ (aaO. S. 9). Auch dahinter steckt wohl eine bestimmte Absicht des Evangelisten. In den hellenistischen Gemeinden standen Tod und Auferstehung Jesu so im Mittelpunkt, dass sein irdisches Leben an Bedeutung verlor. In den enthusiastischen Kreisen Jerusalems war der irdische Jesus hinter dem himmlischen verschwunden. Die Gefahr bestand, dass man den Einbruch himmlischer Macht und himmlischen Lebens auch mit einem griechischen oder römischen Gott in Verbindung bringen konnte. Es war nicht mehr klar, warum Gottes Liebe ausgerechnet in Jesus Christus in diese Welt eingebrochen ist. Dem setzt Markus, wie gesagt, einen sehr irdischen Jesus gegenüber.

In den Jerusalem-Geschichten deutet Jesus in Zeichen und Gleichnissen das Geheimnis seines künftigen Sterbens. Wir haben ja gesehen, wie schwer das für die Jünger zu verstehen ist und wie schwer das alles deshalb auch für uns zu verstehen ist. So werden uns in diesem Teil des Markus-Evangeliums noch einmal konkreter und gezielter die Augen geöffnet. Und zwar zum einen durch die Auseinandersetzung Jesu mit den Hohenpriestern, Schriftgelehrten und Ältesten (Mk 11,1 – 12,44), dann durch seine Endzeitrede (Mk 13,1-37) und schließlich durch die Schilderung seiner Passion (Mk 14,1 – 15,41). Die Passionsgeschichte ist der Höhepunkt des Markus-Evangeliums. Auf sie hin zielt das Wirken Jesu, und von hier aus erschließt sich das ganze Evangelium. Im Kreuzweg kommt die Blindheit der Jünger zu ihrem Höhepunkt und gipfelt Jesu Auseinandersetzung mit den Mächten der Finsternis. Da zeigen die Dämonen ihre ganze Macht. Aber gerade dort, wo die Dämonen im Tod Jesu scheinbar siegen, werden sie besiegt. Hier kommt sein Vertrauen auf die Macht des errettenden Gottes zur Vollendung. Er vertraut bedingungslos der Liebe seines Vaters, die sich gerade in der Verborgenheit des Kreuzes offenbart und die durch die Auferstehung bestätigt wird. In der tiefsten Erniedrigung wird Jesus als der Sohn Gottes erhöht.

Ein Satz aus der Passionsgeschichte erscheint mir erwähnenswert, vor allem im Blick auf das Sehen-Können des Bartimäus, der für Markus ja das Vorbild eines Jesus-Nachfolgenden darstellt. Nachdem Jesus, wie Markus formuliert, „den Geist ausgehaucht“ hat (Mk 15,37), heißt es: „Als der Hauptmann, der Jesus gegenüberstand, ihn auf diese Weise sterben sah, sagte er: Wahrhaftig, dieser Mensch war Gottes Sohn“ (Mk 15,39). In der Gestalt des Hauptmanns erklärt Markus uns, was ihm so wichtig ist: Dass wir das richtige Sehen lernen, das Sehen mit den Augen des Glaubens. Dahin müssen wir kommen; das ist das Ziel der Nachfolge. Markus gestaltet die Gestalt des Hauptmanns als Vorbild für seine Leser. Sehen wir wie Bartimäus und sehen wir wie der Hauptmann, dann spüren wir, wer Jesus ist und was das Geheimnis seiner Person bedeutet.

Einleitung und Schluss des Evangeliums als Einladung, es mit offenen Augen meditierend zu betrachten

Schauen wir uns an, was uns bisher mit Hilfe des Markus aufgegangen ist. Es geht um ein Öffnen unserer Augen für das Geheimnis Jesu; er selbst ist dabei, uns diesen Blick zu schenken. Mit Hilfe der Galiläa- und der Jerusalem-Geschichten hat sich unser Blick weiten können. Das ist der inzwischen gewachsene Kern, um den nun noch einmal „Verpackungen“ angeordnet werden – diesmal zwei kleinere Texteinheiten, die aber nicht unwichtig sind und die sich mit den Stichworten „Wüste“ (Mk 1,1-13) und „Grab“ (Mk 15,42 – 16,8) charakterisieren lassen. Wüste und Grab entsprechen sich; beides sind Orte der Dunkelheit und der Dämonen. Wüste und Grab sind also von den Mächten der Finsternis bestimmt. In diese Bereiche tritt Jesus ein und besiegt durch seine Botschaft, durch seine Krafttaten und durch Tod und Auferstehung die Macht der Dämonen.

Markus beginnt sein Evangelium mit einem Hinweis auf Jesus durch Johannes den Täufer. So wird uns Jesus sprichwörtlich gezeigt, und zwar durch jemanden, der Aufmerksamkeit erregt aufgrund seiner Lebensweise und seiner Predigt. Doch Johannes stellt klar: „Nach mir kommt einer, der stärker ist als ich; ich bin es nicht wert, mich zu bücken, um ihm die Schuhe aufzuschnüren. Ich habe euch mit Wasser getauft, er aber wird euch mit dem Heiligen Geist taufen“ (Mk 1,7f.). So kommt Jesus ins Bild, als einer der mit „ganz Judäa und allen Einwohnern Jerusalems“ zu Johan-nes hinauszieht (Mk 1,5) und sich von ihm im Jordan taufen lässt (Mk 1,9) – wenn man so will: als ein ganz „normaler“ Mensch. Markus geht es um diesen irdischen Jesus, der uns zugleich aber von Gott selbst als sein geliebter Sohn vorgestellt wird, an dem er Gefallen gefunden hat (Mk 1,11). Doch der geliebte Sohn Gottes wird vom Geist in die Wüste „geworfen“, wie es aus dem Griechischen wörtlich übersetzt heißt („ekballein“) – in den Raum des Todes also: Hier muss sich das Leben bewähren, das Gott seinem Sohn geschenkt hat. Der Geist drängt Jesus, alle Höhen und Tiefen des Menschseins zu durchleben. Oder anders gesagt, von der Taufe Jesu her: Die Taufe muss in alle Abgründe seiner Seele eindringen, und der Geist soll gerade das Dunkle und Dämonische in ihm durchdringen und verwandeln.

Die eine Seite dieses letzten Sandwichs stellt uns also Jesus vor und macht uns neugierig auf ihn. Wir sollen ihn sehen, wir sollen ihn kennen lernen. Wir sollen dem Geheimnis seiner Person nachspüren. Das genügt. Wenn wir uns darauf einlassen, sind wir in der Rolle der Blinden angekommen, die ausdrücklich darum bitten, sehen zu können.

Die andere Seite des Sandwichs beinhaltet die Grablegung, nicht ohne noch einmal deutlich betont zu haben, dass Jesus gestorben ist, seinen irdischen Lauf also vollendet hat (vgl. dazu Mk 15,44f.). Dass ihm durch Josef von Arimathäa ein ehrenvolles Begräbnis bereitet wird, ist als Bild dafür zu verstehen, dass Jesus von Gott gerechtfertigt wird, dass er in Gottes Herrlichkeit eingeht. Wichtiger aber ist etwas ganz Eigenartiges, das uns erst am Ende des Evangeliums begegnet (vgl. dazu auch schon Mk 15,40f.): Dass zwei Frauen, Maria aus Magdala und Maria, die Mutter des Joses, „nachschauten“ – griechisch: theorein = schauen, betrachten im Sinne von meditieren, mit Aufmerksamkeit ansehen, Wissen über etwas erhalten – wohin der Leichnam Jesu gelegt wurde (Mk 15,47). Zunächst einmal: Bisher haben Frauen keine besondere Rolle im Evangelium des Markus gespielt. Erst nach der Hinrichtung Jesu kommen sie in den Blick. Markus stellt sie uns als im Sinne des Wortes „theorein“ schauende vor, also wieder ein Sehen mit den Augen des Bartimäus, mit den Augen des Glaubens, des inneren Betrachtens, des Meditierens: Dabei geht ihnen das Geheimnis Jesu auf. Sie sehen: Gott selbst handelt an ihm; in Jesus schauen sie Gott. So meditieren sie auch die Grablegung Jesu. Sie ahnen den tieferen Sinn des Geschehens. Sie schauen nach innen. Sie erkennen das Geheimnis des Geschehens. Das Begrabenwerden ist ein Bild dafür, dass wir den Leib Jesu bewusst und ehrfürchtig in das eigene Innere aufnehmen, damit er in uns das Dunkel vertreibt und uns von den Fesseln des Todes und der Sünde befreit.

So führt Markus uns mit den Frauen am ersten Tag der Woche ans Grab Jesu (Mk 16,1ff.), wo wir in der Gestalt eines weiß gekleideten jungen Mannes, der auf der rechten Seite des Grabes sitzt (Mk 16,5), einen Boten Gottes sagen hören: „Ihr sucht Jesus von Nazaret, den Gekreuzigten? Er ist auferstanden; er ist nicht hier… Geht vielmehr und sagt seinen Jüngern: Er geht euch voraus nach Galiläa; dort werdet ihr ihn sehen, wie er es euch gesagt hat“ (Mk 16,6f.). Auch das gehört zur „Verpackung“ dessen, was Markus uns mitteilen will: Ihr sucht Jesus von Nazaret. Geht! Folgt ihm nach Galiläa! Geht mit ihm seinen Weg nach Jerusalem. Haltet mit ihm aus wie die Frauen unter dem Kreuz und am Grab. Dann werdet ihr ihn finden als den Auferstandenen und Lebendigen, als den, der euch auch heute voran geht, um euch die Augen zu öffnen und zum „theorein“, zum gläubigen, immer mehr begreifenden Schauen zu bewegen.

Ein Wort zum Verfasser des Evangeliums

Zum Schluss noch eine Bemerkung zu Markus selbst und zur Entstehungszeit seines Evangeliums: Seit frühester Zeit wird Markus mit dem im Neuen Testament genannten Johannes Markus identifiziert (Apg 15,39; Kol 4,10; Phlm 24; 2 Tim 4,11: hier wird jeweils ein Markus erwähnt; Apg 12,12.25; 15,37 wird er mit seinem Doppelnamen Johannes Markus erwähnt; Apg 13,5.13 ist nur von Johannes die Rede, gemeint ist aber eindeutig Johannes Markus). Apg 12,12 macht darauf aufmerksam, dass Markus der Sohn einer Maria ist, in deren Haus die erste Christengemeinde in Jerusalem zusammenkam. Vermutlich ist er in Jerusalem aufgewachsen und hat die Zeit Jesu erlebt, wenn er auch nicht an allen Begebenheiten teilgenommen hat und vielleicht nicht einmal Jesu Jünger war. Sein Vetter Barnabas (Kol 4,10) und Paulus nahmen ihn mit nach Antiochien (Apg 12,25) und auf die erste Missionsreise. Er kehrte jedoch bald nach Jerusalem zurück. Seinetwegen trennte sich Paulus später von beiden, Barnabas und Markus gingen nach Zypern, schlossen sich aber bald wieder den Hauptaposteln an: Kol 4,10; Phlm 24 bezeugen, dass Markus bei Paulus in Rom ist. Die Tradition betont sein enges Verhältnis zu Petrus (1 Petr 5,13).

Ein Wort zur Entstehungszeit des Evangeliums

Für das Markus-Evangelium gilt in Übereinstimmung mit der bis auf Klemens von Alexandrien zurückgehenden Tradition bei der Mehrzahl der Bibelwissenschaftler Rom als Abfassungsort. Jedoch wäre auch eine heidenchristliche Gemeinde des Ostens denkbar. Entscheidendes Kriterium für die Abfassungszeit ist Mk 13, die Endzeitrede: Hier kommt es darauf an, ob in dieser Rede auf die Zeit vor dem jüdischen Krieg, im jüdischen Krieg oder nach dem jüdischen Krieg und damit auch nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels angespielt wird. Entsprechend muss die Abfassungszeit vor oder nach 70 datiert werden. Neuere Untersuchungen plädieren für die Zeit kurz nach 70.

Ein Wort zum Abschluss des Evangeliums

Das Markus-Evangelium hat einen nachdenklich stimmenden ungewöhnlichen Abschluss (vgl. Mk 16,8). Die Frauen haben die Botschaft des Engels am Grab Jesu vernommen. Nun schildert Markus ihre Reaktion: „Da verließen sie das Grab und flohen; denn Schrecken und Entsetzen hatte sie gepackt. Und sie sagten niemand etwas davon; denn sie fürchteten sich.“ Dieser Schluss bereitet den Bibelwissenschaftlern, aber auch vielen anderen Probleme. Das Evangelium der Osternacht im Lesejahr B endet deshalb mit den Worten des Engels: „Er geht euch voraus nach Galiläa; dort werdet ihr ihn sehen, wie er es euch gesagt hat“ (Mk 16,7).

Später, im 2. Jahrhundert, kam ein Zusatz dazu, der zugleich einen harmonischeren Abschluss darstellte (Mk 16,9-20). Die Bibelwissenschaftler sind sich heute einig, dass dieser Zusatz nicht zum Markus-Evangelium gehört; er wird deshalb in den meisten Bibel-Ausgaben in eckige Klammern gesetzt. Inhaltlich handelt es sich um eine Zusammenfassung der in anderen Evangelien stehenden Berichte über die Erscheinungen und Anweisungen des Auferstandenen.

Doch wenn dieser Zusatz nachweislich kein Bestandteil des Markus-Textes ist: Wie gehen wir dann mit dem eigenartigen Abschluss des Evangeliums (Mk 16,8) um? Vielleicht hilft uns hier der Hinweis weiter, dass „Schrecken“ und „Entsetzen“ an vielen Stellen schon des Alten Testaments als Reaktionen einer Gotteserfahrung verwendet werden, genauso wie darauf gewöhnlich der Hinweis folgt: „Fürchtet euch nicht!“ oder im Falle von Mk 16,6: „Erschreckt nicht!“ Was die Frauen erlebt haben, bedarf erst einmal der Verdauung. Ihre Reaktion kann von daher als Umschreibung der Erfahrung, dass uns im auferstandenen Christus Gott selbst nahe ist, verstanden werden. Damit ist das Sehen, um das es Markus so augenscheinlich geht, ans Ziel gelangt – im Sehen der Frauen. Und wer das noch nicht sehen kann, der oder die ist eingeladen, noch einmal zurückzugehen und die einzelnen Sandwiches anzuschauen, am besten von innen nach außen, wie Markus sein Evangelium komponiert hat.

Joachim Pfützner

7./8.11.2005

Verwendete Literatur:

- Anselm Grün, Jesus – Weg zur Freiheit. Das Evangelium des Markus, Stuttgart (Kreuz-Verlag) 2003

- Joachim Gnilka, Das Evangelium nach Markus, EKK, Zürich-Einsiedeln-Köln (Benziger Verlag) und Neukirchen-Vluyn (Neukirchener Verlag) 1978ff.

- Herbert Haag, Art. „Markusevangelium“ in: Ders., Biblisches Wörterbuch, Freiburg (Herder-Verlag) 1994/2003, 270-273

  © 2024 · Gemeinde Stuttgart · 
disclaimer · Impressum · Bilder von Wikimedia und pixelio.de